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Leitlinien zur Deinstitutionalisierung in deutscher Sprache veröffentlicht

Logo Deutsches Institut für Menschenrechte
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Foto: Von Institut für Menschenrechte - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

Berlin (kobnet) 2022 hat der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen seine "Leitlinien zur Deinstitutionalisierung (auch in Notfällen)" veröffentlicht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat diese ins Deutsche übersetzt. In den Leitlinien geht es um die Verwirklichung des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf Inklusion in die Gemeinschaft. Sie sollen als Grundlage für die Planung von Deinstitutionalisierungsprozessen und der Verhinderung von Institutionalisierung dienen. Dies teilt das Deutsche Institut für Menschenrechte im Hinblick auf die Veröffentlichung der Publikation mit, die nun im Internet heruntergeladen werden kann.

„Die Leitlinien stützen sich auf die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen vor und während der Pandemie der Coronavirus-Krankheit (COVID-19), die eine weit verbreitete Institutionalisierung aufgedeckt hat, und sie heben die schädlichen Auswirkungen der Institutionalisierung auf die Rechte und das Leben von Menschen mit Behinderungen hervor sowie die Gewalt, die Vernachlässigung, den Missbrauch, die Misshandlung und die Folter, einschließlich chemischer, mechanischer und physischer Fesseln, die sie in Einrichtungen erfahren“, heißt es zum Zweck und Prozess des Dokuments in der nicht amtlichen Übersetzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte und weiter heißt es: „Die Leitlinien sind das Ergebnis eines partizipativen Prozesses, der sieben vom Ausschuss organisierte regionale Konsultationen umfasste. Mehr als 500 Menschen mit Behinderungen nahmen daran teil, darunter Frauen mit Behinderungen, Kinder mit Behinderungen, Überlebende von Institutionalisierung und Menschen mit Albinismus, Basisorganisationen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen.“

Im Hinblick auf die Pflicht der Vertragsstaaten, Institutionalisierung zu beenden heißt es in dem Dokument u.a.:
„4. Trotz völkerrechtlicher Verpflichtungen werden Menschen mit Behinderungen weltweit weiterhin unter lebensbedrohlichen Bedingungen in Einrichtungen untergebracht.

5. Der Ausschuss stellt fest, dass Deinstitutionalisierungsprozesse entweder nicht mit dem Übereinkommen in Einklang stehen oder überfällig sind.

6. Institutionalisierung ist eine diskriminierende Praxis gegenüber Menschen mit Behinderungen und verstößt gegen Artikel 5 des Übereinkommens. Es handelt sich dabei um eine faktische Verweigerung der rechtlichen Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen, was einen Verstoß gegen Artikel 12 darstellt. Institutionalisierung stellt eine Internierung und einen Freiheitsentzug aufgrund von Beeinträchtigungen dar, was gegen Artikel 14 verstößt. Vertragsstaaten sollten Institutionalisierung als eine Form von Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen anerkennen. Sie setzt Menschen mit Behinderungen einem erzwungenen medizinischen Eingriff mit psychotropen Medikamenten wie Beruhigungsmitteln, Stimmungsstabilisatoren, Elektrokrampftherapie und Konversionstherapie aus und verstößt damit gegen Artikel 15, 16 und 17. Sie setzt Menschen mit Behinderungen der Verabreichung von Medikamenten und anderen Eingriffen ohne ihre freie, vorherige und informierte Einwilligung aus, was gegen Artikel 15 und 25 verstößt.

7. Institutionalisierung widerspricht dem Recht von Menschen mit Behinderungen auf ein selbstbestimmtes Leben und Inklusion in die Gemeinschaft.

8. Die Vertragsstaaten sollten alle Formen der Institutionalisierung abschaffen, keine neuen Unterbringungen in Einrichtungen mehr vornehmen und keine Investitionen in Einrichtungen tätigen. Institutionalisierung darf niemals als eine Form des Schutzes von Menschen mit Behinderungen oder als eine ‚Wahlfreiheit‘ betrachtet werden. Die Ausübung der Rechte nach Artikel 19 des Übereinkommens kann nicht in Notsituationen, einschließlich Notfällen im Bereich der öffentlichen Gesundheit, ausgesetzt werden.

9. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, die Institutionalisierung fortzusetzen. Die Vertragsstaaten sollten den Mangel an Unterstützung und Dienstleistungen in der Gemeinschaft, Armut oder Stigmatisierung nicht als Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung von Einrichtungen oder die Verzögerung ihrer Schließung heranziehen. Inklusive Planung, Forschung, Pilotprojekte oder die Notwendigkeit einer Gesetzesreform sollten nicht dazu benutzt werden, Reformen zu verzögern oder unmittelbare Maßnahmen zur Unterstützung der Inklusion in die Gemeinschaft zu begrenzen.“

Was unter Institutionalisierung zu verstehen ist, schildert der Ausschuss unter Punkt 14. Dort heißt es: „Es gibt bestimmte Elemente, die eine Einrichtung kennzeichnen, wie z. B. die obligatorische gemeinsame Nutzung von Assistenzen mit anderen und kein oder nur ein begrenzter Einfluss darauf, welche Assistenz die Unterstützung leistet; Isolierung und Segregation von einem selbstbestimmten Leben in der Gemeinde; fehlende Kontrolle über alltägliche Entscheidungen; fehlende Wahlfreiheit für die betroffenen Menschen, mit wem sie zusammenleben; Starrheit der Routine ungeachtet des persönlichen Willens und der persönlichen Präferenzen; identische Aktivitäten am selben Ort für eine Gruppe von Menschen unter einer bestimmten Autorität; ein paternalistischer Ansatz bei der Erbringung von Dienstleistungen; Überwachung der Lebensumstände; und eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen mit Behinderungen in derselben Umgebung.“

Wenn sich Deutschland am 29. und 30 August diesen Jahres der 2. Staatenprüfung durch den UN-Ausschuss über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Genf stellen muss, wird der hohe Grad der Institutionalisierung behinderter Menschen in Deutschland sicherlich ein Kernpunkt der Kritik bilden, wie dies bereits bei der ersten Staatenprüfung 2015 war. Seit dem hat sich diesbezüglich trotz des Bundesteilhabegesetzes recht wenig geändert, sind sich viele Verbände wie die LIGA Selbstvertretung einig.

Link zur deutschen Übersetzung der Leitlinie