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Aussonderung beatmeter Menschen vorprogrammiert

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Foto: Irina Tischer

Kassel (kobinet) Eigentlich sollte laut dem ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn mit der Verabschiedung des umstrittenen Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes (IPReG) für intensivpflegebedürftige Menschen vieles besser werden, indem Fehlanreize und Abrechnungsbetrug eingedämmt werden sollten. Das Gesetz und vor allem die Bestimmungen zu dessen Ausführungen machen es Menschen, die Beatmung oder eine Trachealkanüle nutzen, allerdings zunehmend schwer, die nötige Hilfe auch zukünftig zu bekommen, um soweit wie möglich selbstbestimmt leben zu können. Der Druck zur Entwöhnung von der Beatmung wird erhöht und dies zum Teil mit Inkaufnahme entsprechender Gefahren für die Betroffenen.

Und die Fristen für entsprechende regelmäßige Potenzialerhebungen machen den Betroffenen zusätzlich Stress. Dies klappt vorne und hinten nicht, weil es gar nicht so viele spezialisierte Ärztinnen und Ärzte gibt, die diese Begutachtungen rechtzeitig, wie in den Regelungen vorgesehen, leisten können oder verordnen wollen, wie die kobinet-nachrichten aus gut informierten Kreisen erfahren haben.

Vor allem wenn es um die für viele beatmete Menschen äußerst brisante, bis zum Teil lebensgefährliche, Beatmungsentwöhnung – dem sogenannten „Weaning“ – geht, etablieren sich nach Informationen der kobinet-nachrichten Praktiken, bei denen das Wohl der Betroffenen längst nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern das Einsparpotential der Kassen. Dies machen die kürzlich bekannt gewordenen Verträge zwischen Kliniken und gesetzlichen Krankenversicherungen am Beispiel der AOK Plus deutlich: Qualitätsvertrag zur Respiratorentwöhnung von langzeitbeatmeten Patienten (prolongiertes Weaning): AOK Gesundheitspartner

Bei erfolgreicher Vermittlung von potenziellen Patient*innen durch Pflegedienste an ebendiese Weaning-Zentren werden Pauschalen von 3.000 bis 5.000 Euro gezahlt, auch die Krankenhäuser erhalten Provisionen bei „erfolgreicher“ Beatmungsentwöhnung.

Viele derjenigen beatmeten Menschen, die ambulant unterstützt und in den eigenen vier Wänden ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen wollen, stehen aufgrund der ungewissen Zukunft und der noch fehlenden ambulanten Verordnungsstrukturen unter enormen Druck, wie die kobinet-nachrichten von Betroffenen erfahren haben. Mit dem Recht auf ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde mit entsprechender Unterstützung, wie dies in der UN-Behindertenrechtskonvention u.a. in Artikel 19 verankert wurde, oder eine an der Teilhabe orientierte Unterstützung habe die derzeitige Praxis und die Etablierung neuer Fehlanreize nicht mehr viel zu tun. Viele Betroffene befürchten, dass das erst der Anfang ist.

Verbände behinderter Menschen müssen daher sehr wachsam sein, was derzeit hinter oftmals verschlossenen Türen in Vertragsverhandlungen oder in anderen meist internen Gremien verhandelt wird – Selbstbestimmung und Teilhabe, Qualität oder Verordnungssicherheit werden zu leeren Schlagworten. Gerade im Lichte der intensiven Triage-Diskussionen im Zuge der Corona-Pandemie oder aber auch der noch anstehenden Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am 29. und 30. August 2023 müsse diese Entwicklung sehr kritisch begleitet und dem UN-Ausschuss über die Rechte behinderter Menschen zur Kenntnis gebracht werden, sind sich mittlerweile viele Engagierte im Sinne der Selbstbestimmung behinderter Menschen einig.

Mit einem Offenen Brief an den Bundesminister für Gesundheit Prof. Karl Lauterbach haben sich die Mitgliedsverbände des Think Tanks zum Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) bereits zu Wort gemeldet. Sie kritisieren neue Fehlanzreize in der außerklinischen Intensivpflege, die den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben schwer machen.

Link zum kobinet-Bericht vom 26. Mai 2023 zum Offenen Brief des Think Tank GKV-IPReG