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Corona und die Folgen in Berliner Psychiatrien

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Foto: Susanne Göbel

Berlin (kobinet) Nicht zuletzt die Ermittlungen wegen langjähriger Gewaltakte im Wittekindshof in Bad Oeynhausen haben dazu beigetragen, dass derzeit verstärkt über Gewalt in Einrichtungen diskutiert wurde. Julia Lippert von den Kellerkindern in Berlin hat sich daher mit der Situation in Berlin beschäftigt und festgestellt, dass im letzten Jahr die Anordnung von Fixierungen massiv zugenommen haben. Mehr dazu in ihrem Bericht und Kommentar für die kobinet-nachrichten.

Bericht von Julia Lippert

Ein Bericht des RBB hält fest, dass es in Berlin im letzten Jahr zu einem Anstieg von 16 Prozent bei den Anordnungen von Fixierungen gekommen ist. Im Jahr 2020 wurden 3.290 Fixierungen beantragt – durchschnittlich alle zwei bis drei Stunden täglich. Im Vergleich: 2019 waren es noch 2.831 Anträge. Der Bericht erläutert verschiedene Gründe:

– zu wenig Personal, im Verhältnis zu den Patient*innen auf der Station

– zu viele Patient*innen auf den Stationen (teilweise Betten auf Fluren)

– sanierungsbedürftige Räumlichkeiten, in denen sich Patient*innen und Mitarbeitende nicht wohlfühlen

Obwohl verschiedene UN-Gremien, zum Beispiel der UN-Fachausschuss in den Allgemeinen Anmerkungen Nr. 1 (42.), Fixierungen und psychiatrische Zwangsmaßnahmen als Formen von Folter herausstellen, entschied das Bundesverfassungsgericht erneut 2018, dass Fixierungen unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich zulässig sind.

Fixierungen bedürfen hiernach bei einer Dauer von mehr als 30 Minuten einer richterlichen Genehmigung. Die Richter*innen sind dazu verpflichtet, sich einen Eindruck vor Ort zu machen. Auf Grund der hohen Zahlen an Anordnungen haben die Richter*innen oft nur wenig oder ungenügend Zeit, sich ein angemessenes Bild von der Situation zu machen.

Link Zum Bericht im RBB: https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/01/berlin-psychiatrie-fixierung-zwangsmassnahmen-corona-pandemie.html

Kommentar

Es ist besorgniserregend, dass trotz klarer Standpunkte der UN-Gremien und ethischer Kontroversen an der Praxis von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen sowohl gesetzlich als auch medizinisch festgehalten wird. Nicht nur bedeuten Zwangsmaßnahmen für betroffene Menschen mitunter einschneidende Traumatisierungen, sondern sie greifen auch fundamental in Selbstbestimmungsrechte betroffener Personen ein. Darüber hinaus erscheint es auch kaum menschenrechtskonform, wenn im Zuge von Privatisierung und Kostenersparnis, psychiatrische Krankenhäuser flächendeckend mit zu wenig Personal ausgestattet sind und damit sich die Situationen auf der Station regelmäßig zuspitzen. Die Leidtragenden sind zu allererst Menschen mit psychischen Behinderungen. Diese Entwicklung, so ist zu vermuten, wird sich durch die Folgen der Corona-Krise noch verschärfen. Um dieser Entwicklung entgegen zu wirken, ist eine breite zivilgesellschaftliche Willensbildung, die sich kritisch mit der Rechtmäßigkeit von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen auseinandersetzt, notwendig. Gerade die Expertise von Menschen mit eigenen Psychiatrieerfahrungen sollte hier maßgeblich sein!