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Natalie Geese vermittelt gerne Wissen zum Thema Behinderung

Porträt von Natalie Geese
Natalie Geese
Foto: ISL

Berlin (kobinet) Natalie Geese arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste der Universität Siegen. Zudem schreibt sie ihre Doktorarbeit an der Universität zu Köln zur Bedeutung der verschiedenen Mobilitätsassistenzen blinder Menschen in sozialen Interaktionen. Als Referentin des Projektes "CASCO - vom Case zum Coach" bewegt sich thematisch bei ihr vieles im Bereich Selbstbestimmung, Empowerment und Barrierefreiheit. Maria Trümper, die in der Projektkoordination mitwirkte, sprach für die kobinet-nachrichten mit Natalie Geese über ihr Wirken als CASCO-Referentin und eine Reihe anderer Fragen.

Aufgrund ihrer wissenschaftlichen bzw. beruflichen Qualifikation ist es Natalie Geese besonders wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Blick auf Behinderung nicht nur ein voyeuristischer ist, sondern dass die Peer-Expertise als fachliche Kompetenz gleichbedeutend neben der erlernten Qualifikation anerkannt wird. Das Projekt „CASCO – Vom Case zum Coach“ ist ein vierjähriges Projekt der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), das 2020 erfolgreich endete. In dieser Zeit wurden insgesamt 32 Menschen mit Behinderungen zu fachlich qualifizierten Referent*innen für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik ausgebildet. Unter http://www.referenten-mit-behinderung.de/ kann man sie für Veranstaltungen, Seminare und Workshops buchen.

Maria Trümper: Hallo Natalie. Schön, dass du die Zeit für dieses Interview gefunden hast. Wie geht es dir? Wie hat sich dein Alltag seit Corona verändert?

Natalie Geese: Mein Alltag hat sich seit Corona gar nicht so gravierend verändert. Meine täglichen Spaziergänge in der Natur kann ich immer noch machen und in meinem Arbeitsbereich, der Wissenschaft, wurde auch vorher schon viel im Home-Office gearbeitet. Aus drei Tagen Home-Office in der Woche sind nach Ausbruch der Pandemie eben fünf geworden. Allerdings vermisse ich es schon, meine Bekannten persönlich zu treffen und mich mit ihnen beispielsweise auch mal zum gemeinsamen Essen zu verabreden. Auch finde ich es schade, dass alle Tagungen nur noch digital stattfinden. Ich halte Vorträge lieber vor einem Publikum, das gemeinsam mit mir in einem Raum sitzt, weil ich so die Reaktionen meiner Zuhörer*innen akustisch erfassen kann und beispielsweise mitbekomme, wenn sie unruhig werden.

Als blinde Person bin ich auf akustische Rückmeldungen angewiesen. Wenn bei digitalen Veranstaltungen alle ihre Mikrofone ausgeschaltet haben, um Nebengeräusche zu vermeiden, weiß ich nie, ob mir überhaupt noch jemand zuhört oder, ob ich nur noch zu mir selber spreche. Deshalb hoffe ich, dass in den nächsten Monaten viele Personen geimpft werden können und persönliche Begegnungen dann wieder möglich sind.

Maria Trümper: Die CASCO-Weiterbildung ist – zum Glück – noch vor Corona durchgeführt worden. Du hast von 2018 bis 2019 an der CASCO-Weiterbildung teilgenommen – was hat dir gut an der Ausbildung zur CASCO-Referent*in gefallen?

Natalie Geese: Mir hat sehr gut gefallen, dass alle Teilnehmenden mit ihren Stärken und Schwächen wertgeschätzt worden sind, alle in ihrem Tempo lernen konnten und kein Druck aufgebaut worden ist. Auch fand ich das Miteinander der Referent*innen toll. Wir haben uns gegenseitig unterstützt, einander zugehört und ich hatte nie das Gefühl, dass ein Konkurrenzkampf zwischen den Teilnehmenden ausbrechen könnte.

Maria Trümper: Warum wolltest du CASCO-Referent*in werden? Wie bist du zur CASCO-Ausbildung gekommen?

Natalie Geese: Ich vermittele gerne Wissen zum Thema Behinderung, weil ich hoffe, so einen Beitrag dazu zu leisten, dass sich die Gesellschaft der Barrieren bewusst wird, die sie behinderten Menschen in den Weg stellt. Schriftlich mache ich das in Fachartikeln schon länger. Aber ich wollte auch gerne Vorträge halten, hatte aber noch wenig Erfahrung darin. Deshalb habe ich nach einer Weiterbildung gesucht, in der ich die Tätigkeit als Referentin erlernen konnte – im Optimalfall mit Bezug zum Thema Behinderung aus einer menschenrechtlichen Perspektive. Irgendwann bin ich dann im Internet auf CASCO gestoßen und habe sofort gedacht: Genau das habe ich gesucht.

Maria Trümper: Welche Themen sind deine Steckenpferde und warum?

Natalie Geese: Ich referiere gerne über das Thema „Selbstbestimmt leben mit Assistenzhund“, weil ich selber seit 18 Jahren von einem Blindenführhund begleitet werde. In den vergangenen Jahren habe ich mir viel Wissen zu dem Thema angeeignet. Immer wieder fällt mir auf, wie wenig die Bevölkerung (behinderte und nichtbehinderte Menschen gleichermaßen) darüber weiß. Auch biete ich Vorträge zu barrierefreier Kommunikation in Begegnungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen an. Dabei geht es beispielsweise darum, wie man blinden Menschen eine brauchbare Wegbeschreibung geben kann, ohne mit der Hand in die entsprechende Richtung zu zeigen oder ein Gebäude mit einer bestimmten Farbe als Orientierungspunkt zu nennen. Das ist beides nicht hilfreich, wird aber von Sehenden immer wieder genutzt, weil sie nicht wissen, welche Informationen ihr blindes Gegenüber weiterbringen würden. Außerdem ist Empowerment ein Thema, zu dem man mich als Referentin buchen kann. Es ist mir ein Anliegen, behinderte Menschen zu ermutigen, für ihre Belange einzustehen.

Maria Trümper: Dein Einsatz als Referentin mit Behinderungen ist nicht immer ganz einfach, weil oft die Peer-Perspektive (noch) nicht als Expertise anerkannt oder zumindest in Frage gestellt wird. Was ist dein schlagendes Argument, warum überall dort, wo über Behinderung gesprochen wird, auch behinderte Menschen mitreden müssen nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns!“?

Natalie Geese: Weil behinderte Menschen am besten wissen, was sie brauchen. Sie kennen ihren Alltag am besten, haben die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert werden, am eigenen Leib erfahren und haben vielleicht auch selber kreative Lösungen entwickelt, um mit schwierigen Situationen umzugehen, die sie an andere gerne weitergeben möchten.

Maria Trümper: Für welches behindertenpolitische Thema brennst du und warum?

Natalie Geese: Für das Thema Assistenz (menschliche und durch den Hund). Sowohl die Finanzierung interessiert mich als auch die Rahmenbedingungen zur Ausbildung von Assistenzhunden und ihre Zutrittsrechte zu Arztpraxen, Geschäften etc. Warum ich dafür brenne: Weil mich das Thema Assistenz auch persönlich betrifft und ich immer wieder feststelle, dass es dort noch Verbesserungsbedarf gibt. So dauert es oft mehrere Monate, bis man Arbeitsassistenz bewilligt bekommt und mit meinem Blindenführhund wurde mir schon häufiger der Zutritt zu Geschäften verwehrt.

Maria Trümper: 2020 ist politisch viel geschehen. Was denkst du: Welche sozialen Themen sollten in der Zukunft unbedingt weiter debattiert werden und warum? Welche Themen sollten endlich auf den Tisch kommen?

Natalie Geese: Am besten alle, die mit der Benachteiligung unterschiedlicher Personengruppen und der Zerstörung der Natur zu tun haben. Vor allem sollten sie nicht nur auf den Tisch kommen, sondern es sollte auch gehandelt und Missstände sollten endlich behoben werden.

Maria Trümper: Wo siehst du den größten Aktionsbedarf im Bereich Behinderung?

Natalie Geese: Da gibt es so viele Themen. Auch Themen, die schon länger diskutiert werden, wie schulische Inklusion, sind immer noch aktuell, weil es in dem Bereich nach wie vor Verbesserungsbedarf gibt. Dann wären da natürlich noch Themen wie inklusiver Arbeitsmarkt, digitale Barrierefreiheit, barrierefreie Mobilität, Inklusion im Freizeitbereich und vieles mehr.

Maria Trümper: Welche Rolle spielen Menschenrechte in deinem privaten Leben und im Arbeitsalltag? Wo erfährst du durch deine Beeinträchtigung Diskriminierung und wirst an der Wahrnehmung deiner Menschenrechte behindert?

Natalie Geese: Vor allem bei der Jobsuche nach meinem Studium hatte ich den Eindruck, dass ich häufiger aufgrund meiner Beeinträchtigung nicht eingestellt worden bin. Ich habe mich zwei Jahre lang auf Stellen als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Universitäten in ganz Deutschland beworben. Ich wurde fast immer zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, aber dann doch abgelehnt. Zwar war meine Beeinträchtigung nie die offizielle Begründung, aber ich habe einen überdurchschnittlichen Studienabschluss und hatte während meines Studiums einen Job als studentische Hilfskraft. An mangelnden Qualifikationen und Berufserfahrungen kann es deshalb doch eigentlich nicht gelegen haben, dass ich zwei Jahre lang nur Absagen erhalten habe.

Maria Trümper: Mit welchen Schwierigkeiten bist du während deiner Tätigkeit als Referentin schon konfrontiert worden?

Natalie Geese: Ich habe es schon häufiger erlebt, dass mich Moderator*innen von Veranstaltungen als die Betroffene eingeführt haben, die über ihre persönlichen Erfahrungen als Behinderte spricht: auch bei Veranstaltungen, zu denen ich als Wissenschaftlerin eingeladen war. In solchen Situationen frage ich mich immer, warum ich dort ausschließlich auf meine Behinderung reduziert werde und meine beruflichen Qualifikationen überhaupt nicht beachtet werden. So wichtig ich die Behinderungserfahrung für meine Perspektive auf die Welt finde: Es gibt auch noch andere Ereignisse in meinem Leben, die mich als Person und als Referentin im Speziellen prägen.

Maria Trümper: Vor welcher Personengruppe würdest du besonders gerne einmal referieren und warum?

Natalie Geese: Vor Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Krankenkassen, die für die Bewilligung von Hilfsmitteln zuständig sind. Vielleicht kann ich sie auf diese Weise mehr für die Belange behinderter Menschen sensibilisieren, damit sie zukünftig Entscheidungen treffen, die den Bedarfen behinderter Menschen auch tatsächlich gerecht werden. Aber auch mit Kindern arbeite ich gerne zum Thema Behinderung, weil sie oft noch unvoreingenommen und meistens sehr interessiert sind.

Maria Trümper: Liebe Natalie, herzlichen Dank für das interessante Interview und den Einblick in das Arbeitsfeld Wissenschaft, den du gewährt hast. Da wir ja eine CASCO-Interviewreihe sind: Welche*n CASCO-Referent oder Referentin möchtest du für das nächste Interview nominieren und warum?

Natalie Geese: Ich nominiere Fabian Kittel, weil er einen anderen Erfahrungshintergrund zum Thema Behinderung mitbringt und er auch ein paar andere Themen als Referent anbietet. Vielleicht setzt er deshalb in seinem Interview auch andere Schwerpunkte als ich und macht die Interviewreihe so abwechslungsreich.

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Link zu weiteren Interviews mit CASCO-Referent*innen

Interview mit Peter Marx – kobinet-nachrichten vom 24.2.2021: Peter Marx referiert über seine Erfahrungen als Werkstattrat