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Endlich mit dem Zug angekommen und gleich zum Verkehrsministerium

Cécile Lecomte im Interview mit der tagesschau
Cécile Lecomte im Interview mit der tagesschau
Foto: ISL

Berlin (kobinet) Nach einer Reihe von Problemen endlich mit dem Zug angekommen und mit Medienbegleitung gleich weiter zum Protest vor dem Bundesverkehrsministerium. So gestaltet sich u.a. der heutige Europäische Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen für die Sprecherin für Klimagerechtigkeit und Nachhaltigkeit der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Cécile Lecomte. Auf dem Bild sieht man sie beim Interview mit der tagesschau, die heute am 5. Mai wahrscheinlich gegen 17:00 Uhr über die Protestaktionen berichten wird. Und ab 14:00 Uhr wird die Aktivistin dann bei der Berliner Demo zum Protesttag am Brandenburger Tor dabei sein. Aber auch für Menschen mit psychischen Hindernissen gilt es bei die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel so manche Barriere zu überwinden, wie ein Bericht von Ute Krämer zeigt, die heute die Bahn aus ihrem Blickwinkel testete.

Bericht von Ute Krämer

Morgenweckruf um 05.30 Uhr. Nerven schon voller Energie. Die etwas älteren Knochen ächzen ein wenig. Wettervorhersage: kein Regen in Sicht. Für den Fußweg zum Bahnhof brauche ich nämlich mit Gepäckchen 25 Minuten. Busse fahren im Städtchen, das im Speckgürtel von Berlin liegt, sehr spärlich.

06:10 Uhr schultere ich die Reisetasche. Ein paar Stiefel mussten rein. Bleibt kein Leichtgewicht. Marschiere los, wenige Autos rauschen vorbei. Mein beschwingtes Herz gibt den Takt vor. Der linke Fuß schmerzt nur wenig. Die Reisetasche drückt nur wenig auf der rechten Schulter.

Geht doch. Aber wie lange noch als Single allein wohnen mit meinem seelischen Anderssein. Marsch. Schiebe die dunklen Gedanken weg. Näher gen Bahnhof surren Radler vorbei. Die Sonne lächelt. Friedlich. Zur risikofreien Morgenzeit.

Die Reisetasche ächzt. Das Handy klingelt. Am anderen Ende meiner Reise gibt es einen Noteinsatz. Abholung vom Zielbahnhof wird dann irgendwann. Also länger unter Fremden. Durchatmen, alles ist gut. Es ist hell.

Immerhin fahre ich heute erster Klasse. Dank der ISL Aktion „Mit Verspätung ist zu rechnen“. Ich teste heute, ob eine längere Bahnfahrt im Ruhebereich 1. Klasse meine Nerven schont.

Was brauche ich, um ohne Stress in den Öffentlichen zu fahren? Etwas Sicherheitszone. Bitte keine wildfremden Männer direkt neben mir. In der ersten Klasse sind die Sitze wenigstens breiter. Da muss ich den Atem von Fremden nicht direkt am Hals haben. Frauenabteile gibt es keine. Warum eigentlich nicht?

Da mein Stresssystem in Öffentlichen sowieso Dauerwarnstufe anzeigt, ist jeder weitere Störfaktor wie ein Schlag ins Hirn. Zwischen die Ohren (wo das Gleichgewichtszentrum etwas jammert). Und in den Magen. Also bitte einen Sitzplatz in Fahrrichtung!

Fehlanzeige. Fahrtrichtung wird beim Buchen im Portal der Deutschen Bahn nicht angezeigt. Also Glücksspiel. Heute habe ich allerdings Pech. Erst im Zug kann ich sehen, dass der reservierte Sitzplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ist. Mist. Dann kann ich während 5 Stunden im ICE nicht lesen. Nicht am Laptop arbeiten.

Erstaunlich für mich: alles besetzt. Das 1. Klasse Abteil ist ab Berlin quasi ausgebucht. Ein noch freier Platz in Fahrtrichtung ist erst später reserviert. Occupy! Wenn der Berechtigte Reisende kommt, kann ich ja bitten und betteln, ob ich den geklauten Platz behalten darf. Wir werden sehen. Zuerst einmal surrt der ICE los und beginnt wie was wo: dreidimensional zu schwanken. Das macht der jetzt seit mehr als 30 Minuten. Hätte ich mal nicht gefrühstückt! Meine Nerven feuern ganz durcheinander. Laptop ausmachen. Augen zu! Pause.

Augen zu. Sanftes Dunkel. Der ICE schwankt wie irre. (Blöder Vergleich, sorry.) Mit geschlossenen Augen tickt die Fahrzeit langsamer. Und alle Geräusche scheinen lauter. Wie Tonkonturen im Abteilraum. Vereinzelte Geräusche zeichnen ein spaciges Kunstwerk in meinem Kopf. Mit Zwischenraum zum Durchatmen. Ich kann es kaum fassen. Dieser Ruhebereich in der 1. Klasse ist tatsächlich ruhig. So eine Wohltat. Während meine Wirbelsäule bis ins Mittelhirn dreidimensional durchgeschüttelt wird. Geht schon. Augen bleiben zu!

9:35 Uhr: yeay, es ruckeltschütteltmich jetzt weniger. Die Ruhezone ist weiterhin ruhig. Ich reise auf Sound of Silence-Waves und bin unsagbar froh darüber. Kein Nerventerror. Wir sitzen zu dritt an Laptops um einen Tischplatz und es ist wirklich ruhig. Die stille Arbeit der Fremden wirkt beruhigend. Ich bin weiter im ICE auf Langstreckenfahrt. So wunderbare Ruhe hatte ich noch nie erlebt in einem Ruhebereich 2. Klasse.

10:00 Uhr: alles ruhig und schön. Aber. Aber die anderen, die netten Menschen von Nebenan, werden mich hassen. Oder? Nicht wahr? Was will eine neuropsychisch Behinderte etwa 1. Klasse fahren! Aber es funktioniert. Anstelle stundenlangem Nerventerror kann mein neuropsychisches Anderssein im Ruhebereich der 1. Klasse endlich mal barrierefrei reisen.

Danke an die ISL Aktion. Nach zwei Stunden und rund einem Drittel der Fahrzeit haben wir erst 10 Minuten Verspätung. Die kleine Verspätung macht heute gar nix. Ich reise in Sounds of Silence 1. Klasse endlich mal barrierefrei.