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Barrieren in Arztpraxen und Ablehnung durch Reha-Einrichtungen

Alexander Drewes
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Foto: privat

Kassel (kobinet) Die Krankenkasse von Alexander Drewes hat 13 Reha-Einrichtungen angeschrieben und um eine Aufnahme ersucht. 12 der 13 Einrichtungen haben abgelehnt, die dreizehnte war ungeeignet und hat später auch die Aufnahme abgelehnt. Abgelehnt haben die Einrichtungen Alexander Drewes regelmäßig wegen der Blindheit und dem Argument, dass man als blinder Mensch nicht in der Lage sei, den im pneumologischen Bereich zwingend vorgesehenen Gruppenveranstaltungen zu folgen. Also, nicht wegen der Taubblindheit oder gar der Rollstuhlnutzung von Alexander Drewes, wie dieser im Interview mit kobinet-Redakteur in Sachen Barrieren im Gesundheitssystem verdeutlicht.

kobinet-nachrichten: Wenn man von Mehrfachbehinderungen spricht, dann wissen Sie aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen, was dies bedeutet. Welche Einschränkungen haben Sie und vor allem, welche Erfahrungen machen Sie damit?

Alexander Drewes: Ich habe das Stickler-Syndrom. Das ist im Grunde eine Kollagenschädigung, die vor allem zu Sinnes- und Körperbeeinträchtigungen führt. Insofern hat das bei mir schon einmal gut „geklappt“, ich bin mittlerweile taubblind, praktisch nicht mehr geh- und stehfähig und deshalb auf einen Rollstuhl angewiesen. Ich habe – wohl auch infoge des Syndroms – Diabetes, Asthma und bin mittlerweile chronisch schmerzkrank. Natürlich ist man vor allem durch die doppelte Sinnesbeeinträchtigung massiv im gesellschaftlichen Leben eingeschränkt. Während sich die Kommunikationsbarrieren – wenn auch sehr kostenintensiv aber immerhin – durch eine Taubblindendolmetschung kompensieren lassen, bin ich vielfach durch schiere räumliche Barrieren an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert. Wesentliche Problemfelder hier sind zum Beispiel nicht barrierefrei ausgerichtete Veranstaltungen (auch im politischen Bereich) oder ganze Dienstleistungsbereiche. Hier findet – auch in den kobinet-nachrichten – beispielsweise das Thema Deutsche Bahn immer wieder Berücksichtigung, die sich Barrierefreiheit zwar offiziell auf die Fahnen geschrieben hat, sie inhaltlich aber nur außerordentlich schleppend umsetzt. Das betrifft allerdings auch den für viele von uns noch deutlich relevanteren Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).

kobinet-nachrichten: Sie sind ja seit vielen Jahren behindertenpolitisch aktiv. Was machen Sie derzeit?

Alexander Drewes: Ich bin gerade im Prozess der beruflichen Verselbständigung begriffen. Abgesehen davon, dass es nach wie vor viel zu wenige Beratungs- und Rechtsvertretungsangebote im sehr weiten Feld des Rechts für beeinträchtigte Menschen gibt, ist nir aufgefallen, dass sich hier praktisch niemand von den Betroffenen in den Bereichen barrierefreies Bauen und Verkehr, Betreuungswesen und steuerberatend tummelt. Das scheinen mir sämtlich Felder zu sein, in denen es zumindest nicht schaden kann, wenn man hier mit eigener fachlicher Perspektive und Expertise aufwarten kann. Und ich bin – natürlich, wenn auch in den letzten Jahren krankheitsbedingt zunehmend „auf Sparflamme“ – behindertenpolitisch für die autonome Behindertenszene aktiv. Das sind alles eigentlich erfüllende Tätigkeiten, bei denen man sich aber aufgrund der erheblichen Beeinträchtigungen körperlich schneller „verbraucht“, als das gewöhnlich der Fall ist.

Aber – und das ist mein Credo: Politik, also auch und gerade Behindertenpolitik – ist naturgemäß das Bohren unglaublich dicker Bretter. Aber mit jedem durchbohrten Brett lösen wir einen gesellschaftlichen Diskurs aus, so zuletzt bei den Themen Triage und IPReG. Auch wenn es unendlich mühsam ist, man kann die Betroffenen nur aufrufen: Engagiert euch! Es lohnt sich trotz der Mühe auf jeden Fall.

kobinet-nachrichten: Und trotz Ihrer juristischen und behindertenpolitischen Kenntnisse macht Ihnen das Gesundheitssystem kräftig zu schaffen. Welche Herausforderungen haben Sie derzeit und wo hakt es?

Alexander Drewes: Es gibt hier mehrere grundständige Probleme, die teilweise auch allseitig bekannt sind. Die Barrierefreiheit von medizinischen Einrichtungen ist ein wesentlicher und mittlerweile selbst in der Öffentlichkeit eigentlich hinlänglich bekannter Faktor. Zum Beispiel gibt es in dem Stadtteil, in dem ich lebe, nur einen einzigen Hausarzt. Derselbe hat seine Praxis im Hochparterre. Um in die Praxis zu gelangen, muss ich acht Stufen überwinden. Was also für einen im Gehen nicht beeinträchtigten Menschen kein nennenswertes Problem darstellt, wird bei mir bei jedem Arztbesuch zum Gewaltakt. Ich bin nach einem solchen Arzttermin körperlich am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen.

Noch schlimmer als bei Allgemeinmedizinern ist die fehlende Zugänglichkeit bei Fachärzten. Nun haben wir in der Kommune, in der ich lebe, also in Kassel, das Problem, dass es schon eine ganz gewöhnliche erhebliche Unterversorgung an fachmedizinischen Praxen gibt. Wenn es dann bei bestimmten medizinischen Fachrichtungen im Ort überhaupt keine barrierefrei zugängliche ärztliche Versorgung gibt, ist man als beeinträchtigter Mensch zum Teil gezwungen, Dutzende bis Hunderte von Kilometern zurückzulegen, um überhaupt eine ärztliche Versorgung erhalten zu können. Zum Beispiel muss ich momentan nach Frankfurt, um überhaupt eine rheumatologlische Behandlung erhalten zu können.

Problematisch ist auch die Unkenntnis von der Notwendigkeit umfassender Barrierefreiheit auch und gerade im Gesundheitswesen. Ich lasse jetzt seit Tagen herumtelefonieren – auch hier sind wir mittlerweile wieder in Frankfurt gelandet -, weil hier in Kassel und der näheren Umgebung entweder aktuell nichts verfügbar ist oder das Personal von vornherein deutlich wissen lässt, dass es mit einem solchen Beeinträchtigungsbild wie dem meinen nicht „umgehen“ könne -, um eine spezifische radiologische Untersuchung veranlassen zu können. Mit einem Wort: Es ist ein steter Marathon.

Im stationären Bereich – Krankenhäuser und Rehabilitationseinrichtungen – verhält sich das Ganze mindestens ähnlich dramatisch. Nach meiner Erfahrung ist hier die einzige Möglichkeit, die man kurzfristig zur Anwendung bringen kann, den Versuch einer ständigen Sensibilisierung zu unternehmen. Es fehlt selten wirklich am guten Willen, des medizinischen Personals, allerdings ist es um die fachlichen Kenntnisse dessen, was beeinträchtigte Menschen benötigen, um überhaupt in eine Praxis oder eine Einrichtung zu gelangen und diese dann auch nutzen zu können, geradezu kläglich gering. Hier haben die medizinischen Fachverbände bis heute erheblichen Nachholbedarf in der Schulung ihrer Mitglieder.

Ein weiteres – bislang überhaupt nicht nennenswert diskutiertes – Problem ist der nach wie vor sehr weitgehend paternalistische Zugang des medizinischen Personals zu beeinträchtigten Menschen. Es ist eher der Regelfall als die Ausnahme, dass bei Terminen zunächst ausschließlich mit meiner Taubblindendolmetscherin kommuniziert wird, ehe der Hinweis erfolgt, dass mit mir und nicht über mich hinweg zu kommunizieren ist. Auch ist es durchaus nicht ungewöhnlich, dass bei einem solchen umgreifenden Beeinträchtigungsbild die Ansicht auch im Gesundheitswesen vorherrscht, ein solcherart beeinträchtigter Patient müsse in einem Betreuungsverhältnis stehen.

kobinet-nachrichten: Welche Reaktionen bekommen Sie, wenn Sie sich gegen Barrieren im Gesundheitssystem wehren?

Alexander Drewes: Die Reaktionen lavieren irgendwo zwischen Ignoranz, Larmoyanz, Arroganz bis hin zum – ebenfalls völlig verfehlten – Mitleid. Nicht verschwiegen werden darf allerdings, dass es auch durchaus Verständnis gibt, das sich aber in aller Regel auch eher durch Hilflosigkeit ausdrückt. Die absolute Regel ist auch die Phrase: „Ja, haben Sie denn niemanden, der sich darum kümmert“. Auch das ist ein zutiefst paternalistischer Ansatz, der zudem davon ausgeht, dass sowohl unser Sozialleistungssystem weitgehend funktioniert, als auch, dass man regelhaft über ein intaktes Umfeld verfügt. Gegen Ersteres spricht meine jahrzehntelange berufliche Erfahrung, gegen Letzteres der Umstand, dass ich zum einen aus Südbayern stamme und mittlerweile in Nordhessen lebe, es also um mein familiäres Umfeld eher schlecht bestellt ist, und ich seit jeher – also auch schon zu Zeiten, als ich „nur“ blind und hochgradig hörbeeinträchtigt war – privat kein sonderlich zugänglicher Mensch bin. Und – plump gesagt: Finde mit diesem Beeinträchtigungsbild überhaupt ein nennenswertes Umfeld, wenn persönliche Kontakte unmittelbar kaum bis praktisch gar nicht mehr möglich sind.

Verblüffend ist auch, dass sich selbst Krankenversicherungsträger mit dem Thema Barrierefreiheit noch überhaupt nicht näher auseinandergesetzt zu haben scheinen. Diese Erfahrung habe ich sowohl umfassend beruflich als jetzt auch – und das hat mich wirklich erstaunt, weil meine Krankenkasse genau gewusst hat, dass sie sich mit jemandem „vom Fach“ anlegt – persönlich gemacht.

kobinet-nachrichten: Barrierefreie Rehaeinrichtungen zu finden, ist für Menschen mit Mehrfachbehinderungen zuweilen nicht einfach. Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich gemacht?

Alexander Drewes: Die Erfahrungen mit skurril zu umschreiben, wäre wirklich ein Euphemismus. Ich habe vor 19 Monaten eine medizinische Rehabilitation mit der Indikation Pneumologie beim Rentenversicherungsträger beantragt. Die Deutsche Rentenversicherung hat dann an die Krankenversicherung (das ist in meinem Fall die mhplus BKK) verwiesen. Die Krankenkasse hat binnen der gesetzlich vorgeschriebenen sechs Monate einen die Reha gewährenden Bescheid erlassen und schon vorher nach einer Reha-Einrichtung gesucht, die mich aufnehmen würde.

Die Krankenkasse hat dann 13 Reha-Einrichtungen angeschrieben und um eine Aufnahme ersucht. 12 der 13 Einrichtungen haben abgelehnt, die dreizehnte habe ich zunächst abgelehnt, weil sie eine kardiologische Indikation hat, es also vom Beeinträchtigungsbild überhaupt nicht gepasst hätte. Abgelehnt haben die Einrichtungen übrigens regelmäßig wegen der Blindheit und dem Argument, dass man als blinder Mensch nicht in der Lage sei, den im pneumologischen Bereich zwingend vorgesehenen Gruppenveranstaltungen zu folgen. Also, wohlgemerkt, nicht wegen der Taubblindheit oder gar der Rollstuhlnutzung.

14 Monate nach Antragstellung wurde es mir dann zu dumm und ich habe die Krankenkasse (und zunächst auch mehrere Reha-Einrichtungen) darauf verklagt, mir wenigstens zwei Einrichtungen zu benennen, die sich in der Lage sähen, mich, meine Taubblindenassistenz und eine Pflegeassistenz – sämtliches war bereits durch die Krankenkasse dem Grunde nach zuvor bewilligt worden – im Rahmen einer medizinischen Rehabilitation aufzunehmen. Ich habe den Anordnungsantrag auch darauf gestützt, dass ich mich durch die Vorgehensweise der Krankenkasse und der Reha-Einrichtungen diskriminiert fühle, weil sie – entgegen dem neueren Gesetzeswortlaut des BGG – keine hinreichenden Vorkehrungen getroffen haben, dass solche Fallgestaltungen wie die meine erst gar nicht vorkommen können.

Ich bin erstinstanzlich – also vor dem Sozialgericht – mit meinem Antrag krachend gescheitert. Man kann den Beschluss des Sozialgerichts im Grunde so zusammenfassen: Herr Drewes, das ist natürlich alles sehr unschön, was Ihnen da passiert ist, aber im Grunde genommen haben Sie zum einen einfach Pech gehabt und es hätte ja eine Klinik gegeben, die Sie aufgenommen haben würde. Daneben: Aufgrund des sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses (man hat nur ein Vertragsverhältnis mit seiner Krankenkasse, diese dann wiederum eines mit der Reha-Einrichtung, erst nach Aufnahme kommt ein mittelbares Vertragsverhältnis zwischen Rehabilitand und Reha-Einrichtung überhaupt erst zustande) haben Sie gar keinen Rechtsanspruch gegen irgendeine Reha-Einrichtung.

Ich habe dann in diesem Zusammenhang noch die Klinik, die einer Aufnahme vorher der Krankenkasse gegenüber zugestimmt hatte, geschrieben, mein Beeinträchtigungsbild dargestellt und um eine Stellungnahme gebeten, ob sie sich nun tatsächlich in der Lage sähe, mich aufzunehmen. Und, oh Wunder, auch hier habe ich eine abschlägige Nachricht bekommen.

kobinet-nachrichten: Welche Folgen hat das für Sie persönlich?

Alexander Drewes: Das Fehlen einer Rehabilitation – im Anschluss an diese sollte eigentlich noch eine neurologisch-schmerztherapeutische folgen – hat für mich momentan desaströse Folgen. Ich bin gegenwärtig kaum in der Lage, mich mehr als zwei, drei Stunden am Stück aufrecht zu halten. Meinem Hausarzt fällt zu den Schmerzzuständen seit Monaten nichts mehr ein, mein Schmerzarzt wartet auf die nuklearmedizinischen und radiologischen Befundberichte, die – aufgrund der oben geschilderten Situation – über Monate hinweig so nach und nach „eintröpfeln“. Schlicht: Wenn ich nicht so einen unbändigen Willen hätte, könnte man verzweifeln.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche frei hätten, welche wären dies?

Alexander Drewes: Der eine Wunsch ist eher politischer Natur, für den anderen müssten die Menschen in ihrer Gesamtheit anders gestrickt sein, als sie es sind. Von der Politik würde ich mir zum einen wünschen, dass unsere Themen – also behindertenpolitische, das sind regelmäßig solche, die die gesamte Zivilgesellschaft betreffen – endlich einmal aus ihrem Orchideenfach herauskommen und die tatsächliche Relevanz erhalten, die ihnen gesamtgesellschaftlich gebührt. Mit dem Thema mittelbare oder unmittelbare Beeinträchtigung hat in seinem Leben jeder Mensch zu tun. Das Thema wird aber gesellschaftlich – bis auf personelle und projektbezogene „Leuchttürme“ – fast vollständig ignoriert. Alle Ansätze, uns hier eine dauerhaft und wirkmächtige, lautstarke und einflussreiche politische Lobby zu schaffen, halte ich in der Vergangenheit für weitgehend gescheitert. Nur so ist es erklärbar, dass die uns betreffende Antidiskriminierungsgesetzgebung wie ein Schweizer Käse wirkt und es ganze Rechtsgebiete gibt, in denen wir nach wie vor völlig sanktionslos – auch ohne Sachgrund – diskriminiert werden dürfen.

Das andere – also der persönliche Zugang – ist das weitgehende Fehlen von Empathie. Wie kann es möglich sein, dass mich ein türkischer Taxifahrer seit Monaten zu überreden versucht, endlich in die Türkei umzusiedeln, weil dort zwar die Verhältnisse hinsichtlich der Barrierefreiheit mindestens ähnlich katastrophal sind wie hier, ich aber dort – und das trägt meine Erfahrung mit Menschen aus Süd- und Nordeuropa sehr häufig – der Umgang mit dem Thema Beeinträchtigung ungleich selbstverständlicher ist, als das hier der Fall ist. Ich erwarte nicht einmal nennenswerte Rücksichtnahmen auf uns, wenn wir nur tatsächlich die gleichen Chancen hätten wie nicht beeinträchtigte Menschen und Willy Brandts These von der „compassion“ in diesem Land ein wenig mehr Früchte trüge, als das in der Vergangenheit der Fall war, wäre gesamtgesellschaftlich schon viel gewonnen.

Da dieses Land aber eine furchtbare Geschichte hat, was beeinträchtigte Menschen betrifft, und das gesellschaftliche Bild von Beeinträchtigung nach wie vor ein Stigma darstellt, fürchte ich, dass ich weder die tatsächlich gleichberechtigte Teilhabe von beeinträchtigten Menschen am gesellschaftlichen und politischen Leben noch erleben werde, dass wir die „Denke“, Beeinträchtigung sei etwas, dass man gesamtgesellschaftlich mindestens ausgrenzen, wenn nicht noch eher negieren müsse, dahin geändert bekommen, dass wir eine gleichberechtigte Teilhabe nicht nur verfassungsrechtlich einfordern, sondern wir sie umstandslos einfach leben lernen. Schlicht: Die Barrieren in den Köpfen müssen weg, dann fallen nach und nach auch die restlichen.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.