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Dringender Handlungsbedarf bei Versorgung von beatmeten Menschen

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Berlin (kobinet) Nicht zuletzt das Schreiben der Fachverbände für Menschen mit Behinderung vom 7. Juni an Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach mit dem Hinweis auf lebensbedrohliche Versorgungsdefizite bei beatmeten Versicherten macht deutlich, dass die Frist für das Inkrafttreten des neuen Anspruchs auf Außerklinische Intensivpflege um zwei Jahre verlängert werden muss. Verschiedene Akteur*innen hatten bereits zuvor auf die falsche Richtung hingewiesen, die hier vom ehemaligen Gesundheitsminister Jens Spahn angeschoben wurde und die Betroffenen enorm unter Druck setzen.

Die kobinet-nachrichten hatten bereits am 30. Mai darauf hingewiesen, dass bei den derzeitigen Regelungen die Aussonderung beatmeter Menschen vorprogrammiert ist. Vor allem wenn es um die für viele beatmete Menschen äußerst brisante, bis zum Teil lebensgefährliche, Beatmungsentwöhnung – dem sogenannten „Weaning“ – geht, etablieren sich nach Informationen der kobinet-nachrichten Praktiken, bei denen das Wohl der Betroffenen längst nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern das Einsparpotential der Kassen. Dies machen die kürzlich bekannt gewordenen Verträge zwischen Kliniken und gesetzlichen Krankenversicherungen am Beispiel der AOK Plus deutlich: Qualitätsvertrag zur Respiratorentwöhnung von langzeitbeatmeten Patienten (prolongiertes Weaning): AOK Gesundheitspartner. Bei erfolgreicher Vermittlung von potenziellen Patient*innen durch Pflegedienste an ebendiese Weaning-Zentren werden Pauschalen von 3.000 bis 5.000 Euro gezahlt, auch die Krankenhäuser erhalten Provisionen bei „erfolgreicher“ Beatmungsentwöhnung.

„Sollte die Frist nicht verlängert werden, tritt das neue Recht zum 31. Oktober 2023 in Kraft. Bislang stehen aber nicht genügend qualifizierte Ärzt*innen zur Verfügung, um die Versorgung der betroffenen Versicherten über diesen Stichtag hinaus zu gewährleisten“, macht Beate Bettenhausen, Vorsitzende des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm) für die Fachverbände für Menschen mit Behinderung deutlich. „Hier droht deshalb eine lebensgefährliche Unterversorgung einer besonders vulnerablen Personengruppe.“

Derzeit seien bundesweit etwa 18.000 beatmete oder trachealkanülierte Versicherte von der neuen Rechtslage betroffen. Eine Verordnung der für sie lebensnotwendigen medizinischen Behandlungspflege dürfe künftig nur noch durch eine kleine Gruppe besonders qualifizierter Ärzt*innen erfolgen. Zuvor müsse außerdem ein etwaiges Entwöhnungspotenzial ermittelt werden. Der Kreis der hierzu befugten Fachärzt*innen bedürfe sogar noch höherer Qualifikationen und sei damit noch enger gefasst. Das machten auch die aktuellen Zahlen deutlich: In der Arztsuche des Nationalen Gesundheitsportals seien bislang lediglich etwa 200 zur Potenzialerhebung befugte Fachärzt*innen und zirka 300 zur Verordnung befugte Hausärzt*innen gelistet, heißt es vonseiten der Fachverbände.

„Für die Versorgung der 18.000 Versicherten, die künftig alle sechs Monate eine Verordnung nebst Potenzialerhebung benötigen, ist das viel zu wenig. Zudem schränkt die fehlende Barrierefreiheit vieler Arztpraxen die Versorgung der Betroffenen zusätzlich ein“, erläutert Beate Bettenhausen, die selbst Mutter eines jungen Mannes mit Intensivpflegebedarf ist.

Um der Entstehung einer strukturellen Mangellage entgegenzuwirken und flächendeckende Versorgungsstrukturen aufzubauen, fordern die Fachverbände für Menschen mit Behinderung deshalb, die Frist für das Inkrafttreten der neuen Rechtslage um zwei Jahre zu verlängern.

Zum Hintergrund:

Außerklinische Intensivpflege (AKI): Mit dem sehr umstrittenen Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (GKV-IPReG) wurde die AKI aus der häuslichen Krankenpflege ausgegliedert und in eine eigene Regelung überführt. Aufgrund dieser neuen Systematik haben gesetzlich Versicherte, die beatmet, trachealkanüliert oder aus anderen Gründen auf Intensivpflege angewiesen sind, ab dem 31. Oktober 2023 keinen Anspruch mehr auf häusliche Krankenpflege, sondern können nur noch AKI nach der Spezialvorschrift des § 37c SGB V erhalten. Das hierdurch geschaffene Sonderrecht für Intensivpflegepatient*innen und ihren Ausschluss vom Anspruch auf häusliche Krankenpflege hatten die Fachverbände für Menschen mit Behinderung im Gesetzgebungsverfahren nachdrücklich kritisiert.

Link zum kobinet-Bericht vom 30. Mai 2023

Link zum kobinet-Bericht vom 26. Mai 2023 zum Offenen Brief des Think Tank GKV-IPReG