Menu Close

Menschenrechte und „Werkstatt“-Wirklichkeit

Logo: UN-Menschenrechtsrat
UN-Menschenrechtsrat
Foto: UN-Menschenrechtsrat

Winsen a. d. Aller/Geretsreid (kobinet) Ulrich Scheibner und Norbert Spiegl gehören zu den Aktiven in der Virtuellen Denkwerkstatt, einer Gruppe von "Werkstatt“-Fachleuten, die zum Teil schon jahrzehntelang in Leitungspositionen für eine grundlegende Reform des "Werkstätten“-Systems eingetreten sind. Sie sind nach wie vor ehrenamtlich aktiv tätig. Die kobinet-nachrichten befragten die beiden nach den Ergebnissen der Generaldebatte im Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen (UNO) zum Artikel 27 des Übereinkommens über die Rechte der Menschen mit Beeinträchtigungen. Die virtuelle UNO-Debatte fand am 22. und 24. März 2021 statt.

kobinet-nachrichten: Vom 25. Januar bis 15. März 2021 konnten die Organisationen, die sich mit und für Menschen mit Beeinträchtigungen engagieren, dem UNO-Ausschuss ihre Position zum Artikel 27 – Arbeit und Beschäftigung – und dessen Verwirklichung in den Mitgliedsstaaten schriftlich darlegen. Halten Sie das Vorgehen für den richtigen Weg?

Norbert Spiegl: Prinzipiell ja, konkret aber nein. Eine fast unüberwindbare Hürde ist die Sprache. Die Stellungnahmen aus den Nationalstaaten waren z. B. nicht in deutscher Sprache möglich. Das ist ein Hindernis für viele Selbsthilfeorganisationen. Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen kommen gar nicht erst zu Wort. Zumindest was die deutsche Seite und deren europäische Interessenvertretungen angeht, blieb man wieder einmal im Kreis der mächtigen Organisationen unter sich.

Ulrich Scheibner: Beim Artikel 27 des UNO-Übereinkommens geht es um das zen­trale gleiche Recht auf Arbeit für Menschen mit Beeinträchtigungen. Es geht um den ungehinderten Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, um das Recht auf ein existenz­sicherndes Arbeitseinkommen und um den Auftrag an die nationalen Regierungen, das Recht auf Arbeit zu verwirklichen. Das richtet sich besonders an den Bundestag, den Bundesrat und die Bundesregierung. Denn es geht um die inklusionsorientierte Gestaltung der Wirtschaft und aller Sondereinrichtungen am Rande des Arbeitsmarktes. Besonders die deutschen „Werkstätten“ gehören dazu. Wir müssen uns bewusst machen, dass dieses System allein in der Bundesrepublik über das Schicksal von Hunderttausenden beeinträchtigter Menschen entscheidet.

Norbert Spiegl: Die Sprache ist gerade bei solchen UNO-Debatten ganz zentral: Sie kann teilhabeorientiert oder ausschließend sein. Sie soll nach dem UNO-Übereinkommen von 2006 die Einbeziehung bislang behinderter Menschen durch geeignete Formen und Inhalte der Kommunikation sicherstellen. Artikel 2 und Artikel 21 verlangen deshalb, dass sich jeder beeinträchtigte Mensch in seiner für ihn verständlichen Sprache „und allen sonstigen selbst gewählten zugänglichen Mitteln, Formen und Formaten der Kommunikation“ mitteilen darf. Auch die Menschen ohne Fremdsprachenkenntnisse oder die rund 80 Prozent der „Werkstatt“-Beschäftigten, die zu den funktionalen Analphabeten gezählt werden, müssen eine Stimme haben. Da hatten wir uns vom UNO-Ausschuss Vorbildlicheres erhofft.

kobinet-nachrichten: Dennoch ist es doch beispielhaft, wenn der UNO-Menschenrechtsausschuss alle Stellungnahmen ins Internet gestellt hat und dazu eine Übersetzungssoftware anbietet.

Norbert Spiegl: Das ist überaus hilfreich. Aber der Übersetzungsautomat ist auch nur ein Roboter, der die notwendigen Genauigkeiten bei der Übersetzungsarbeit nicht leisten kann. Wir mussten und müssen noch viele Stellungnahmen selbst ins Deutsche übertragen, sogar die der deutschen Organisationen. Denn die „Werkstatt“-Vertreter bieten auf ihren Internetseiten kein deutschsprachiges Dokument an. Aber es lohnt sich, auch die Positionspapiere der Bundesarbeitsgemeinschaft der „Werkstätten“ und der „Werkstatt“-Räte zurück ins Deutsche zu übersetzen.

Ulrich Scheibner: Denn eine so eindringliche Werbung für die Sonderwelt der deutschen „Werkstätten“ liest man selten in unserer Sprache. Der Caritasverband schreibt z. B., dass „Werkstatt“-Beschäftigte die gleichen Rechte wie Arbeitnehmer*innen hätten, aber nicht die gleichen Pflichten. Schön wär’s: Auf ihre Erwerbsminderungsrente warten „Werkstatt“-Beschäftigte zwanzig Jahre statt der sonst üblichen fünf. Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn haben sie auch nicht. Ein Arbeitsvertrag wird ihnen erst gar nicht angeboten, um nur drei Beispiele von dutzenden Benachteiligungen zu nennen. Das z. B. unterscheidet unsere „Werkstätten“-Welt von anderen in der Europäischen Union. Und mit Rehabilitation hat unser System auch nichts zu tun: Weder kann es eine dreijährige Berufsausbildung anbieten noch wirkungsvolle Übergänge ins Erwerbsleben bieten. Die kennt eigentlich nur das Gesetz im SGB IX. Die Wirklichkeit ist trostlos und wird durch Werbesprüche nicht besser.

Norbert Spiegl: Der Verein der hauptamtlichen „Werkstatt“-Räte schreibt zum Beispiel – auf Englisch: „Unseres Wissens ist der deutsche Ansatz in diesem Bereich weltweit einzigartig.“ Da haben sie leider recht: Ein solches Sondersystem, das man in Europa „Taschengeldwirtschaft“ nennt, ist einzigartig. Viele unserer europäischen Nachbarn haben solche Systeme abgeschafft. Ein Blick in die Niederlande, nach Belgien, Irland oder Spanien würde uns weniger hochmütig machen.

kobinet-nachrichten: Was könnten wir aus den rund 120 schriftlichen und fast 40 mündlichen Stellungnahmen lernen, die der UNO-Menschenrechtsausschuss zum Artikel 27 inzwischen publiziert hat?

Ulrich Scheibner: Wir, das heißt vor allem die staatlichen Gremien und die vom Gesetz zum UNO-Übereinkommen in die Pflicht Genommenen, können nur dann lernen, wenn die Bereitschaft dazu besteht. Da sehen wir momentan nicht mehr als einen Streifen am Horizont. Zu diesen Lichtblicken gehört das Engagement der demokratischen Oppositionsparteien, sich für eine Inklusions-Enquete einzusetzen. Dabei geht die FDP voran. Die Lernbereitschaft bei den Organisationen der „Werkstätten“-Träger entwickelt sich womöglich noch, besonders dadurch, dass in allen europäischen und internationalen Stellungnahmen, die wir bislang durchgearbeitet haben, drei Aspekte im Vordergrund stehen …

Norbert Spiegl: … Erstens geht es darum, dass die Politik bereit ist, Fakten für einen tatsächlich inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen. Das verlangen alle rund dreißig Stellungnahmen, die wir bisher genauer kennen. Zweitens geht es um einen gleichberechtigten Rechtsstatus der „Werkstatt“-Beschäftigten. Mit Blick auf die unterschiedlichen Bezeichnungen in der Welt sehen wir darin die Forderung nach einem zweifelsfreien Arbeitnehmerstatus. Der steht mit erweiterten Schutzrechten nicht im Widerspruch. Und drittens muss die Einkommensfrage beantwortet werden: Der Mindestlohn heißt Mindestlohn, weil er das Mindesteinkommen sein muss – auch für die „Werkstatt“-Beschäftigten. Dafür unterstützen wir u. a. die Petition von Lukas Krämer mit bereits über 36.000 Unterstützter*innen (siehe kobinet-nachrichten vom 5. April 2021).

Ulrich Scheibner: Es ist übrigens nicht so, dass die europäischen Dachorganisationen der Dienstleistungsunternehmen für beeinträchtigte Menschen die Auffassungen der deutschen „Werkstätten“-Träger und ihrer Bundesarbeitsgemeinschaft teilen: In den Stellungnahmen, auch von „Access to Work Europe und der „European Association of Service Providers“ (EASPD), wird auf die Vorschriften der Artikel 5, 24, 26 und 27 – Bildung, (Re-)Habilitation und Zugänge zur Erwerbsarbeit – deutlich hingewiesen. Die machen sie zu Maßstäben für Sondereinrichtungen. Diese Rechtsnormen erfüllen unsere „Werkstätten“ nach wie vor nicht: nämlich Übergangseinrichtungen zu sein und dadurch die tatsächliche Gleichberechtigung herbeizuführen und zu beschleunigen, Zugänge zu echter Berufsausbildung zu schaffen, „die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen“ und das gleiche Recht auf Arbeit mit entsprechendem Lohn zu garantieren.

kobinet-nachrichten: Sagt der Menschenrechtsausschuss der UNO, dass „Werkstätten“ überholt sind?

Norbert Spiegl: Das sagen etliche Selbsthilfeorganisationen – gerade die deutschen. Die „Sozialhelden“ oder „AktivDabeisein“ sind Beispiele dafür. In der EU kritisiert besonders „Inclusion Europe“ das heutige „Werkstätten“-System. Und weltweit ist es „Inclusion International“. Sowohl der UNO-Ausschuss als auch alle inklusionsorientierten Stellungnahmen formulieren Anforderungen an menschenrechtlich akzeptable Sondereinrichtungen. Die leiten sie vom UNO-Übereinkommen für die Rechte behinderter Menschen ab. Die deutschen „Werkstätten“ haben eine Zukunft, wenn sie diese Ansprüche erfüllen.

Ulrich Scheibner: Dieses UNO-Übereinkommen ist bei uns geltendes Gesetz. Die darin verlangten Maßnahmen zu erfüllen, würde einen Fortschritt in die richtige Richtung bedeuten. Erst dann könnte die Bundesarbeitsgemeinschaft der „Werkstätten“ zu Recht das behaupten, was sie in ihrer Stellungnahme gegenüber dem UNO-Ausschuss so formuliert hat: „The stereotypes of sheltered workshops of the past do no longer apply.“ Auf Deutsch: „Die Stereotypen über die ‚Werkstätten‘ der Vergangenheit gelten nicht länger.“ Das ist leider nicht die Realität, aber es ist ein gutes Ziel, das wir ebenso verfolgen.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.