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Mehr Inklusion wagen

Foto zeigt Margit Glasow
Margit Glasow, Journalistin, Inklusionsbeauftragte der Linkspartei
Foto: Privat

Berlin (kobinet) Die Linke will wegen der Corona-Pandemie auf einem dezentralen Parteitag ihre neue Führung wählen. Für den Parteivorstand kandidieren auch zwei langjährig Aktive aus der Behindertenbewegung: Margit Glasow aus Rostock und Ilja Seifert aus Berlin. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstbestimmte Behindertenpolitik der Partei unterstützt die Kandidaturen. Die Rostocker Journalistin beantwortet heute Fragen von kobinet.

kobinet: Die Linke wählt voraussichtlich auf einem dezentralen Parteitag Ende Februar 2021 eine neue Führung. Was können behinderte Menschen von diesem Parteitag erwarten?

Margit Glasow: Ich tue mich etwas schwer mit dem Wort „erwarten“. Ich sehe in Menschen mit Behinderungen handelnde Personen, die sich selbst vertreten können – getreu der Devise: Wir können es nur selber tun. Denn das Thema Inklusion ist für viele – in der gesamten Gesellschaft – immer noch zu weit weg, weil sie selbst nicht in dieser Form von Ausgrenzungen betroffen sind. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass sich diejenigen, die diesbezügliche Erfahrungen gemacht haben, viel stärker selbst engagieren.

kobinet: Wie geht das?

Margit Glasow: Dazu brauchen sie oftmals Ermutigung und Unterstützung. Und entsprechende barrierefreie Strukturen, um behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. Die Partei DIE LINKE hat 2019 ihr Teilhabekonzept aktualisiert, um gerade dieses Selbstvertretungsrecht von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstbestimmte Behindertenpolitik, in der viele Menschen aktiv sind, die mit einer Behinderung leben, setzt sich nachdrücklich dafür ein.

kobinet: Zum Beispiel?

Margit Glasow: Sie hat an den Bundesparteitag den Antrag „Mehr Inklusion wagen“ gestellt. In diesem Antrag geht es darum, Inklusion als ein wichtiges Thema im Bundestagswahlkampf zu setzen. Die Antragsteller kämpfen dafür, dass Inklusion und Teilhabe auf einem Wahlplakat thematisiert werden. Und zwar Inklusion nicht als ein Sonderthema einer bestimmten Gruppe von Menschen, sondern als ein Gegenentwurf zu Rassismus, Neofaschismus und Ausgrenzung. Inklusion im Sine eines tiefgreifenden Prozesses zum Abbau von gesellschaftlichen Ungleichheiten, der sich auf all die Menschen bezieht, die von Teilhabe ausgeschlossen und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden: Diskriminiert und stigmatisiert ohne gerechte Zukunftschancen.

kobinet: Diese Sichtweise …

Margit Glasow: … in das Bewusstsein der Menschen zu rücken, ist nicht einfach. Man darf aber davon ausgehen, dass es viele Menschen in der Partei DIE LINKE gibt, die sich für Barrierefreiheit, Teilhabe und politische Partizipation – also die Möglichkeit, sich an politischen Entscheidungsprozessen aktiv zu beteiligen – engagieren. Das gelingt nicht immer und viele Probleme haben sich in Zeiten der Corona-Pandemie verschärft. Viele Strukturen sind weggebrochen – in der gesamten Gesellschaft. Und Menschen mit Behinderungen sind davon in besonderem Maße betroffen. So hat sich zum Beispiel die Situation auf dem Arbeitsmarkt noch einmal deutlich verschärft. Menschen mit Behinderungen sind generell von hoher Arbeitslosigkeit betroffen, jetzt sind viele auf Kurzarbeit. Inklusionsunternehmen haben zum Teil hohe Umsatzverluste und staatliche Hilfe wird oft nicht ausreichend gewährt und ist mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Schwierig ist auch die Situation vieler Werkstattbeschäftigter. Ausgerechnet ihnen werden Leistungsentgelte und berechtigte Urlaubstage streitig gemacht.

kobinet: Keine leichte Zeit mit der Pandemie?

Margit Glasow: Was mich vor allem bewegt, ist der Umstand, dass viele Menschen von Isolation und Vereinsamung betroffen sind. Ich meine damit nicht nur die Bewohner in Einrichtungen und Pflegeheimen, sondern pflegebedürftige Personen und Menschen mit Behinderungen, die allein zu Hause leben. Es muss doch möglich sein, dass sie zwischen gebotenem Infektionsschutz und der Wahrung von Selbstbestimmung und Würde abwägen können und dass ihnen das nicht diktiert wird.

kobinet: Wäre die Zeit nicht reif, dass wieder ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete mit einer Behinderung im Bundestag für die Linkspartei zu sehen und zu hören ist?

Margit Glasow: Ich unterstütze ganz klar diesen Selbstvertretungsanspruch und möchte Menschen mit Behinderungen und anderen Teilhabebeschränkungen ermutigen, für Bundes-, Landes- oder Kommunalwahlen zu kandidieren und auf allen Ebenen als Abgeordnete, Ehrenamtliche und Hauptamtliche tätig zu werden. In unserem Antrag „Mehr Inklusion wagen“ besteht eine Forderung deshalb darin, diese Menschen konkret zu unterstützen, indem ihnen auf Wunsch ein Assistent bzw. eine Assistentin zur Seite gestellt wird, um solidarisch behinderungsbedingte Nachteile auszugleichen. Denn auch wenn wir in unserem politischen Verständnis und unserem Handeln von einem weiten Inklusionsbegriff ausgehen, anerkennen wir gleichzeitig, dass es für Menschen mit Behinderungen besonders viele strukturelle Barrieren gibt, wenn sie sich parteipolitisch engagieren wollen – vor allem, wenn sie in irgendeiner Weise in Sonderstrukturen leben, arbeiten oder wohnen. Obwohl es in den letzten Jahren bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention Fortschritte gegeben hat, etwa bei der Herstellung barrierefreier Kommunikation (Leichte Sprache, Gebärdensprache usw.), ist die politische Infrastruktur und politische Kultur immer noch nicht hinreichend darauf eingerichtet, Menschen mit Behinderungen in politische Entscheidungsprozesse einzubinden und ihnen ihr Selbstvertretungsrecht zuzugestehen.

kobinet: Zurück zur Frage nach einem Bundestagskandidaten mit Behinderung …

Margit Glasow: … bin der Überzeugung: Wichtiger, als Bundestagsmandate zu gewinnen, ist es, sich in Richtungsentscheidungen der Partei einzubringen. Ich habe mich zum Beispiel entschlossen, für den Parteivorstand zu kandidieren, wie es übrigens auch Ilja Seifert tut, der viele Jahre im Deutschen Bundestag saß. Dabei sehe ich meine persönliche Verantwortung darin, Aufklärungsarbeit dafür zu leisten, dass Inklusion nicht als ein Sonderthema von Menschen mit Behinderungen verstanden wird: Solidarität schließt alle Menschen gleichberechtigt ein. Die letzten Wochen und Monate haben deutlich gezeigt, dass es statt um Solidarität immer stärker um die Durchsetzung von Einzelinteressen bestimmter Gruppen von Menschen geht. Corona wurde dabei als Brandbeschleuniger benutzt. Ich möchte deshalb dazu beitragen, Antworten auf die Frage zu finden, wie wir unterschiedliche Zielvorstellungen in Einklang bringen können: Gesundheit, Gerechtigkeit, existentielle Sicherheit, Wahrung der Menschenrechte, Freiheit und Demokratie.

kobinet: Die Inklusionsbeauftragte der Linken hat vor zwei Jahren auf dem Leipziger Parteitag für mehr Barrierefreiheit geworben. Wie zugänglich sind Abgeordnetenbüros und Versammlungsstätten der Partei für behinderte Menschen?

Margit Glasow: Mit dem 2014 beschlossenen und 2019 aktualisierten Teilhabekonzept wurde ein Wettbewerb ins Leben gerufen, bei dem jährlich Büros und Geschäftsstellen mit einem Inklusionspreis ausgezeichnet werden, die weitgehend barrierefrei sind. Das soll Anreiz und Ermutigung sein, denn DIE LINKE sieht in der Herstellung umfassender Barrierefreiheit die Grundvoraussetzung für selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe und Beteiligung. Klar ist: Barrierefreiheit nutzt nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern allen Menschen. Insgesamt kann ich einschätzen: Es ist noch viel zu tun, aber wir sind auf einem guten Weg.

kobinet: Gibt es dafür ein Beispiel?

Margit Glasow: Vor ein paar Wochen erst hatte ich Gelegenheit, einen der Gewinner des letzten Jahres zu besuchen. Der Kreisverband Elbe-Elster in Finsterwalde (Brandenburg) hat vor einer Weile seine Geschäftsstelle in einem sehr schönen, denkmalgeschützten, aber nicht barrierefreien Gebäude aufgegeben und ist in ein ebenerdig zugängliches Büro gezogen, damit Bürgerinnen und Bürger mit Rollstuhl, Kinderwagen oder Rollator kommen können. Solche Entscheidungen sind nicht immer einfach, denn es ist schwer, barrierefreie, aber auch bezahlbare Büroräume zu finden, die dann auch noch mit dem ÖPNV zu erreichen sind. Insofern steht hinter solchen Entscheidungen auch immer ein politisches Bekenntnis: Der Kreisverband Elbe-Elster will das Preisgeld nun dazu nutzen, um neue Lampen anzuschaffen, um die Orientierung in der Geschäftsstelle und die Kommunikation der Menschen untereinander zu verbessern. Davon profitieren nicht nur Menschen mit Sehbehinderungen, sondern auch ältere Menschen.

kobinet: Vielen Dank für das Gespräch!